Oder anders gefragt: Ist eine minimalinvasive Street-Fotografie bei der Art der Fotografie überhaupt möglich?
Ich habe bei Udemy einen Kurs gebucht. Kostenfrei. Er nennt sich – ähnlich sexy wie mein Blogbeitragstitel: „Street Fotografie. Erfolgreich auf der Straße fotografieren“
Soweit so gut. Jedoch, nach nicht einmal einem Drittel, musste ich aktiv die Pausentaste drücken und mich zurücklehnen. Der Ansatz, die Philosophie, das Verständnis des durchaus renommierten Street-Fotografen erschien mir… nun, sagen wir zu extrem.
Auf jeden Fall nicht nachahmenswert, erstrebenswert. Für mich jedenfalls nicht.
Was wurde deutlich?
Er rief nicht aktiv dazu auf, illegal zu handeln, er führte jedoch aus, warum er selbst sich nicht an die Gesetze hält zum Thema Persönlichkeitsrecht, Recht am eigenen Bild.
Das Thema des Einverständnisses des Fotografierten diskutierte er weg und argumentierte, dass es zum einen zu bürokratisch, zu aufwendig wäre, jeden Fotografierten um die Erlaubnis zu fragen und diese auch nachvollziehbar zu dokumentieren und aufzubewahren. Zum anderen argumentierte er, dass ein Foto nach einer Klärung des Einverständnisses kein „echtes“ mehr wäre. Es wäre verfälscht, gestellt und würde DEN Moment nicht wiedergeben.
Das alles kumuliert in einem Zitat zur Videoreihe: „Streetphotography fängt da an, wo die Komfortzone aufhört“. Offensichtlich meint er damit die Komfortzone des Fotografen genauso wie die des Fotografierten. Er spricht von Mut, Selbstbewusstsein des Fotografen und begründet, warum das Ausnutzen der Situation die Bildziele rechtfertigen. Ein Foto durch ein Restaurantfenster auf die dahinter Speisenden. Ein Foto durch die Fensterscheiben eines Busses oder einer Bahn, am besten dann, wenn diese anfährt und die Passagiere keine Möglichkeit mehr haben, Einspruch zu erheben oder sich der Situation zu entziehen. Oder gar den Fotografen ansprechen zu können, mit der Bitte um Löschung des Bildes.
Zweifel an dieser Einstellung sind keine erkennbar. Ganz im Gegenteil. Ich unterstelle dem Videocoach sogar, dass er auf diese Art stolz ist. Ein Bild, das einen Mann mit ausgetrecktem Mittelfinger in Richtung Kamera zeigt, wird sogar mehrfach in dem Kurs gezeigt. Warum? Warum respektiert man nicht diese Form des Nicht-Akzeptierens? Ich kann und will mich nicht mit diesem Ansatz identifizieren. Ich will und kann nicht eine andere Person „ausbeuten“, nur damit ich geile Bilder bekomme. Es hat doch einen guten Grund, warum es Gesetze dazu gibt.
Ich war schon oft auf Reisen, oft auch in Entwicklungs-/Schwellenländern unterwegs, aber ich habe nie ein Foto einer Person gemacht, die dazu nicht bereit war. Einmal. Ein einziges Mal gab es die Situation, dass ich versucht habe, aus der Deckung heraus, einen extrem „bunten“, eigenwilligen Mann zu fotografieren, ganz in der Nähe des Weißen Hauses in Washington. (Ich merke gerade wie passend die Herleitung Entwicklungsland und USA ist… 🙂 ) Er bemerkte mich, war sehr aufgebracht und verlangte von mir die Löschung des Bildes. Ich war zum einen betreten und verlegen, fühlte mich erwischt und habe kleinlaut das Foto in seinem Beisein gelöscht. War das vielleicht eine gute Einnordung in die Thematik? Ich habe jedenfalls sehr schmunzeln müssen als ich erst kürzlich einige Videos zur Streetphotography von Kai W gesehen habe (Hier geht es zu einem Beispielvideo).
Mein Ansatz ist, dass ich mich oft so positioniere, dass man mich sehen kann. Ein Kopfnicken, ein Lächeln, ein stillschweigendes Ok. war für mich die Lösung. Oder sogar wie in dem „Bootbild“ ein Zuwinken. Für mich ist die Streetphotography eher ein Handel als eine Trophäenjagd. Ich als Fotograf und „das Motiv“ gehen einen Handel ein. Ich erhalte ein Erinnerungsfoto, eine Zeitkapsel und der Fotografierte erhält Aufmerksamkeit, Freude an der Wahrnehmung, irgendwie Anerkennung.

Was meine ich damit?
Ich kann mich noch sehr gut an eine Situation in Saigon erinnern. Direkt vor dem Hauptpostamt standen (und stehen vermutlich immernoch) ganz viele Rikschafahrer herum, die auf Kunden warten. Klar habe ich die Masse fotografiert, das Hauptpostamt und die Menschen. Aber ein Fahrer war eher neugierig und vermutlich auch stolz auf seine Arbeit. Wir standen uns quasi gegenüber und er machte eine einladende Geste. Er freute sich wirklich und war nicht auf mich als Kunde „scharf“. Er war einfach gut gelaunt und fand es völlig ok., dass ich ihm das Objektiv quasi ins Gesicht gedrückt habe. Jedes Mal, wenn ich dieses Foto sehe (und es hing jahrelang bei mir an der Wand) muss an die Situation denken und es erfüllt mich mit Freude und Dankbarkeit.
Ein echtes Gefühl bei einem „gestellten“ Bild.
Das ist mir allemal lieber als ein schlechtes Gefühl bei einem „echten“ Bild.

Bonusvideo: „I asked Stranger for Photos – How many said Yes?“
(Das Video finde ich inspirierender als alle Videostunden des Kurses zusammen)